irische Kunst: Book of Lindisfarne und Book of Kells

irische Kunst: Book of Lindisfarne und Book of Kells
irische Kunst: Book of Lindisfarne und Book of Kells
 
Als die germanischen Angeln, Sachsen, Jüten und wohl auch Friesen um 450 in England und Schottland einfielen und die Briten nach Wales und Cornwall abdrängten, hatte das Römische Reich seine Provinz Britannien längst aufgegeben. Als Ergebnis der germanischen Landnahme entstanden schließlich sieben Teilkönigreiche (Kent, Sussex, Essex, Wessex, East Anglia, Mercia und Northumbria), die im 7. Jahrhundert von verschiedenen Personengruppen christianisiert wurden: Von Norden her durch Wandermönche der von Rom unabhängigen iroschottischen Kirche, die durch die Heiligen Patrick und Columban begründet worden war, von Süden her durch Missionare in der Tradition des heiligen Augustinus, der 596 von Papst Gregor dem Großen nach England gesandt worden war und in Canterbury das erste englische Erzbistum gegründet hatte.
 
Dass die Missionierung im Süden nicht rasch und flächendeckend voranschritt, belegt die Schiffsbestattung eines Königs von East Anglia. Der Schiffsfund von Sutton Hoo in Sufffolk, dessen Münzen aus der Zeit um 625 stammen und dessen Goldschmiede- und Emailarbeiten keine christlichen Motive aufweisen. Die Spiralornamentik mit Tierköpfen und die in Email cloisonné ausgeführten Muster von Sutton Hoo tauchen indessen wenig später in christlichen Handschriften, etwa auf den »Teppichseiten« des Book of Durrow, auf. Für christliche Bücher und liturgische Geräte, auch für die Bauskulptur der Kirchen selbst, wurden vorbehaltlos »heidnische« Ornamente verwendet.
 
Auf der Synode von Streaneshalch, das im 9. Jahrhundert in Whitby umbenannt wurde, prallten 664 die Gegensätze zwischen der iroschottischen und der angelsächsischen Kirche aufeinander: Sie endete mit einem Sieg der an Rom gebundenen Gruppe, die die iroschottische Kirche auf den römischen Ritus der Taufe, der Osterberechung, der Tonsur und der Bischofsweihe verpflichtete. Dennoch blieb die Insel Iona zunächst ein Zentrum des irisch-columbanischen Mönchtums. Lindisfarne hingegen und das Doppelkloster Wearmouth-Jarrow wurden Vorposten römischer Observanz. Die kulturellen Unterschiede zwischen Irland, Iona und dem größten Teil Schottlands sowie den übrigen Gebieten der britischen Insel sind auch an den Werken der Kunst ablesbar. So wurden steinerne Hochkreuze zwar sowohl in Irland als auch auf der britischen Insel aufgerichtet; die irischen Kreuze zeigen aber nie das Weinrankenornament, das italienischen Vorlagen nachempfunden und im angelsächsischen Bereich weit verbreitet war. Mit Tieren verbundene Pflanzenranken überziehen auch die Ormside-Schale und das sicher von einem Angelsachsen hergestellte Rupertus-Kreuz aus Bischofshofen. Beide unterscheiden sich mit ihrer Flechtwerk- und Tierkopfornamentik deutlich von irischen Metallarbeiten des 8. Jahrhunderts.
 
Keltische, germanische und mediterrane Formen sind in der Ornamentik und Figurengestaltung verschiedener insularer Evangeliare miteinander verbunden, etwa im Book of Durrow, im Willibrord-Evangeliar und im Book of Lindisfarne. Mit weit größerer Treue als in diesen Handschriften wurden Bildvorlagen italienischen Ursprungs im Codex Amiatinus, einer in Wearmouth-Jarrow hergestellten Vollbibel, wiedergegeben. Schließlich gelangten - ebenfalls durch italienische Anregungen - Buchmaler im Kloster Saint Augustine in Canterbury zu einem eigenen Stil, der der Körperlichkeit der Figuren gerecht wird. Hervorragende Zeugnisse dieses Stils sind der Vespasian- oder Canterbury-Psalter und der Codex aureus in Stockholm. Im Book of Kells, einer einzigartigen Prachthandschrift, deren Auftraggeber und genaue Bestimmung man allerdings nicht kennt, weisen dagegen sämtliche Seiten farbigen ornamentalen und figurlichen Schmuck auf.
 
Im 9. Jahrhundert kam es unter Alfred dem Großen trotz der Raubzüge der Wikinger und Dänen zu einem kulturellen Aufschwung, der sich im 10. und 11. Jahrhundert vor allem durch das Wirken verschiedener Reformäbte und -bischöfe wie Dunstan, Aethelwold und Oswald fortsetzte. Diese Epoche endete mit der normannischen Invasion unter Wilhelm dem Eroberer, deren Hergang bis zur Schlacht von Hastings (1066) der wahrscheinlich im Kloster Saint Augustine in Canterbury hergestellte Teppich von Bayeux zeigt. Karolingische Anregungen wurden sowohl in der Buchmalerei und Elfenbeinkunst von Winchester als auch in der Zeichenkunst von Canterbury - vermittelt durch den Utrecht-Psalter, der dort seit dem Ende des 10. Jahrhunderts lag - aufgegriffen.
 
Prof. Dr. Ulrich Kuder

Universal-Lexikon. 2012.

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